Nur wenige Bücher haben die Welt verändert. Fiktionale Werke waren nicht dabei. Literatur wirkt subtiler und individueller. Wer liest, identifiziert sich mit Lebensweisen, die ihm bisher fremd waren: eine Schule der Empathie.
Ein Essay von Martin Ebel
«Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Grösse.» (Gottfried Benn)
Können Bücher die Welt verändern? Wer die Frage bejaht, verweist in der Regel auf bahnbrechende Werke der Religion, Philosophie oder Politik. Und wer wollte auch leugnen, dass die Bibel, der Koran, das «Manifest der Kommunistischen Partei» nicht nur Leser in dreibis vierstelliger Millionenzahl gefunden haben, sondern auch umstürzende Folgen für ganze Länder und Kontinente hatten? Dass ein Lehrbuch der Staatskunst und Intrige, Machiavellis «Der Fürst», Machthaber bis heute inspiriert? Dass die Französische Revolution mit all ihren Folgen für die Landkarte Europas und die Fortschritte der Zivilisation nur schwer vorstellbar ist ohne Montesquieus «Esprit des lois» oder Rousseaus «Contrat social»?
Ganz anders sieht es mit der verändernden Kraft von Literatur im eigentlichen Sinne aus, also von fiktionalen Werken, von Belletristik. Hier sind die Beispiele dünner gesät, die Wirkungen weniger unmittelbar. Berühmt ist die Opernaufführung, die einen Aufstand in Brüssel auslöste und zur Loslösung des Staates Belgien von den Niederlanden führte: «Die Stumme von Portici» am 25. August 1830. Aber da hatte wohl die zündende Musik von Daniel-François-Esprit Auber einen entscheidenden Anteil. Unbestreitbar ist auch, dass der Roman «Onkel Toms Hütte» breiten Kreisen das Elend der Sklaverei nahebrachte. Dass die Autorin Harriet Beecher-Stowe damit gar den Amerikanischen Bürgerkrieg ausgelöst haben soll, ist allerdings stark übertrieben.
Thesenromane sind wertlos
Wenn wir ins 20. Jahrhundert gehen: «Im Westen nichts Neues» ist gewiss ein starker Antikriegsroman, der viele Leser von der Sinnlosigkeit des Kriegsführens überzeugt hat; allerdings hat Remarques Roman trotz 20 Millionen verkaufter Exemplare keinen einzigen militärischen Konflikt verhindert. Rachel Carsons aufrüttelndes Buch «Der stumme Frühling» (1962) hat auf die katastrophalen Folgen der Pestizide für die Pflanzenund Tierwelt aufmerksam gemacht, das Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge gebildet und letztlich zum Verbot von DDT geführt; aber es ist doch, bei allem literarischen Ehrgeiz, eher ein Sachbuch.
Gleiches gilt für Alexander Solschenizyns «Archipel Gulag», selbst wenn ihn der Autor als «Versuch einer künstlerischen Bewältigung» deklarierte, der vielen Kommunisten Westeuropas die Augen geöffnet und spät, aber endgültig ihre Illusionen über das Sowjetsystem genommen hat.
Was also vermag Literatur? Gar nichts, wie Gottfried Benn meint? Anderes jedenfalls, als Revolutionen auszulösen. Ihre Wirkung ist subtiler, individueller, indirekter und schwerer zu verfolgen. Das liegt schon daran, dass Literatur, wenn sie gut ist, nicht einfach eine politische Absicht erzählerisch umsetzt. Derartiges gibt es; aber solche Bücher verfehlen meist gerade durch ihre Thesenhaftigkeit und Botschaftsbetontheit ihre Wirkung. Der Leser bemerkt die Absicht und reagiert verstimmt und mit Abwehr. Man denke nur an die Stösse politisch lehrhafter Romane oder Thesendramen, die in kommunistischen Staaten von linientreuen Autoren – die bezeichnenderweise als «Ingenieure der Seele» fungieren sollten – verfasst worden sind: allesamt wertlos, folgenlos und zu Recht vergessen.
Literatur, die diesen Namen überhaupt verdient, ist eben nicht eindeutig. Die Wirkung, die von ihr ausgeht, kann sich sogar vollkommen von dem unterscheiden, was der Autor gewollt hat. So war Honoré de Balzac ein begeisterter Monarchist, also Anhänger einer reaktionären Herrschaftsform; seine «Comédie humaine» dagegen stellt Recht, Anspruch und Würde des Bürgertums, aber auch der unteren Klassen heraus (und wurde von Marx und Engels eben deshalb gelobt). Grosse Werke enthalten stets mehr, als der Autor «hineingefüllt» hat; deshalb «wachsen» sie auch und erreichen im Falle von Klassikern auch spätere Generationen. Die lesen aus ihnen etwas heraus, was der Autor noch gar nicht gewusst haben kann.
Franz Kafka liest sich im Lichte der Erfahrungen der Menschheit mit Konzentrationslagern, Gulags und anonymbürokratischen Herrschaftssystemen anders, als das seine Zeitgenossen taten, die (wie er selber) davon nichts ahnen konnten. Umgekehrt können Bücher auch «schrumpfen»: So ist «Onkel Toms Hütte» heutigen Antirassisten eher peinlich, weil die schwarzen Sklaven, vor allem die Titelfigur, so devot und angepasst gezeichnet sind.
Ein gutes Buch ist auch klüger als sein Autor, sein Gehalt komplexer als alles, was dieser dazu sagen kann (weshalb Interviews mit Autoren oft enttäuschend ausfallen, jedenfalls weniger zutage fördern als eine eingehende Besprechung). Und ein solches Buch stellt seine Bedeutung erst bei der Lektüre her – wie eine Komposition erst in der Interpretation eines Musikers zu leben beginnt. Es «gehört» in gewissem Sinne dem Leser, der Leserin; mitsamt der Bedeutung, die es für ihn oder sie gewinnt.
Der Autor kann zwar dagegenhalten, so habe er das gar nicht gemeint; an der Berechtigung der persönlichen Lektüre ändert das nichts. Ja, grosse Literatur erweist sich geradezu in der Vielfalt möglicher Bedeutungen.
So ist der «Don Quijote», von Cervantes ursprünglich angelegt als Parodie auf die Trivialliteratur seiner Zeit, in den Augen der Nachgeborenen gewachsen zu einer Allegorie des spanischen Volksgeistes, einem der grossen Bücher über die «Condition humaine», den Konflikt von Ideal und Realität, über die Weisheit, die im Narren steckt, über Fiktion und Wirklichkeit und vieles mehr.
Welten, die es nie geben wird
Wenn ihre Bedeutung so schwer fassbar ist – worin besteht nun die Wirkkraft von Literatur? Was unterscheidet sie von Sachbüchern, Pamphleten, Essays? Meist erhält man auf diese Fragen die auf Horaz zurückgehende Antwort, Literatur bringe Nutzen und Freude («prodesse aut delectare»), moderner ausgedrückt: Erkenntnis und Unterhaltung. Ich würde es etwas anders akzentuieren: Wer liest, der erfährt etwas – von der Welt, vom Leben anderer Menschen in anderen Ländern oder anderen Zeiten; aber er erlebt auch etwas: weil die Literatur etwas mit ihm macht.
Der erste Punkt bedarf keiner besonderen Erläuterung: Durch die Arbeit von Übersetzern und Verlagen steht uns das gesamte Weltwissen, in narrative Form gebracht, zur Verfügung. Wir können erfahren, wie eine Hofdame im Mittelalter Japans lebte oder ein Kolonialoberst in Indien, wir können dem Zerbrechen einer Ehe in einer Schweizer Kleinstadt beiwohnen oder einem steinzeitlichen Ritual. Erzählformen unterschiedlicher Nähe erlauben es, in das Hirn eines Serienkillers hineinzuschlüpfen oder in das seines Opfers, in das flatternde Herz eines romantischen Backfischs oder das kalte seines zynischen Verführers.
Literatur erweitert so unser Wissen, vervielfältigt unsere Existenz, lässt uns in die Vergangenheit oder die Zukunft blicken, in fremde Welten, die es gibt, die es gab – oder sogar solche, die es nie geben wird.
Gewiss kann man vieles aus Sachbüchern lernen, es gibt ja auch Menschen, die sich geistig ausschliesslich von Sachbüchern nähren und alles «Erfundene» ablehnen. Aber das Gelesene wirkt anders, wenn es in Erzählung verwandelt wird, wenn sich das Systematische gewissermassen abwickelt oder verflüssigt. Es prägt sich anders ein, wenn es durch handelnde Personen vermittelt wird. (Von der Wirkung machtvoller Sprache ganz abgesehen: Was ist ein Lehrbuch der Glockengiesserei gegen Schillers «Lied von der Glocke»?)
Literaturwissen, Literaturerfahrung «sickert ein», wie das Hans Magnus Enzensberger in einem schönen, wenig bekannten Aufsatz mit dem Titel «Die Nebenwirkung kennt nur der Apotheker» genannt hat. Darin weist er auch darauf hin, wie ganze Empfindungskomplexe, gar der Sinn für Schönheit durch Lektüre geweckt, ja sogar geschaffen worden sind. So beeinflusst die romantische Walddichtung unser Verhältnis zum Wald noch heute. Die Vorstellung des Gebirges als etwas Erhabenes kommt ebenfalls aus der Literatur. Ja, selbst die Art, wie wir lieben, ist literarisch vorgeprägt – letztlich durch Petrarca: «317 Sonette und etliche Canzonen haben die Erlebnismöglichkeiten eines ganzen Erdteils verändert», so Enzensberger pointiert. Nun, heute haben Hollywood-Filme oder Youtube-Videos diese Aufgabe übernommen.
Aber was Enzensberger meint, trifft im Prinzip immer noch zu. Auf den Einzelnen bezogen, heisst das: Wir werden, wenn wir lesen, zu einem anderen. Zum Beispiel zu einer vernachlässigten Frau. Oder deren eifersüchtigem Ehemann (wenn wir «Anna Karenina» lesen). Zu einem syrischen Flüchtling (mit Anna Grjasnowas «Gott ist nicht schüchtern»). Zu einem englischen Dienstmädchen, das ganz von der Gunst seiner Herrschaft abhängig ist (mit Graham Swifts «Festtag»). Oder zu einem islamistischen Attentäter (mit John Updikes «Terrorist»). Mit Herman Melville zu einem Buchhalter, der «lieber nicht möchte».
Lektüre funktioniert stark über Identifikation, sie nutzt unsere Fähigkeit, sich vorzustellen, ein anderer zu sein, und steigert diese durch beständige, vielfältige, anregende Lektüre. Gute Literatur ist eine Schule der Empathie.
Die Tragödien des Einzelnen
Natürlich kann ein eifriger Leser trotzdem ein böser Mensch sein, so wie das Spielen von Mozart-Geigensonaten KZ-Aufseher nicht von ihren Monstrositäten abgehalten hat. Aber er muss dann vieles verdrängen, worauf ihn die Lektüre immer wieder stösst: Wie es ist, ein anderer zu sein. Wie andere leben, leiden, fühlen, denken.
Dadurch, dass Literatur von einzelnen Menschen handelt, vom Einzelfall ausgeht, ist sie auch gefeit vor dem, was Ideologen und politischen Systemdenkern leicht passiert: über dem hehren Ziel jene zu vergessen, die davon betroffen sind, die dagegen oder die Opfer sind. «Ein Toter ist eine Tragödie, eine Million Tote sind Statistik», soll Stalin gesagt haben (danach gehandelt hat er). Die Literatur widmet sich diesen Tragödien – natürlich auch den Komödien – des Einzelnen, und sie warnt die Leser davor, die Einzelnen zu vergessen: durch die Überblendungstechnik der Identifikation.
Und wem das immer noch nicht politisch genug ist, der sei an den Gedanken erinnert, den Max Frisch in einer seiner New Yorker Vorlesungen entwickelt hat. Es geht nicht nur um den anderen, der ich sein könnte. Es geht auch um das Andere ganz generell. Um Alternativen zum So-Seienden. Literatur, so Frisch, vermittelt implizit «die Utopie, dass Menschsein anders sein könnte». Das ist neben der empathischen ihre subversive Kraft.
Ein gutes Buch ist klüger als sein Autor. Und wer es liest, der macht es zu seinem eigenen Buch.
Wenn wir lesen, werden wir zu einem syrischen Flüchtling. Oder einem englischen Dienstmädchen.